Rolf Graber
Die Kleinstadt Aarau als Bühne der grossen Politik: Letzte Tagsatzung und Bundesschwur
Mitte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts machten sich die Auswirkungen der Französischen Revolution auch in der Alten Eidgenossenschaft bemerkbar. Die Klageschrift der untertänigen Zürcher Landbevölkerung an die städtische Obrigkeit (Stäfner Memorial) und die Opposition der fürstäbtischen Untertanen gegen das Kloster St. Gallen waren Vorboten der grossen Wende. Das Vorrücken der französischen Revolutionsarmeen gegen die Schweizergrenze sowie die Nachrichten über die revolutionäre Situation im Waadtland und in Basel anfangs Januar 1798 waren Anzeichen eines beschleunigten Destabilisierungs- und Zerfallsprozesses der Alten Eidgenossenschaft. Deshalb wurden die Vertreter der einzelnen Orte, die Tagsatzung, nach Aarau einberufen, um die alten Bünde erneut zu beschwören. DieTatsache, dass dieses Ritual seit 1526 nicht mehr stattgefunden hatte, zeigt, wie bedrohlich die Situation von den Regierenden wahrgenommen wurde. Der Bundesschwur sollte als performativer Akt die Einigkeit, den Widerstandswillen und die Abwehrbereitschaft der herrschenden Machteliten demonstrieren.
Auftritt der «Weiber von Aarau»
Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht. Das vermag ein zeitgenössischer Bericht von Landvogt Fischer an den Kriegsrat in Bern zur illustrieren. Über die Stimmung in Aarau am 25. Januar 1798, dem Tag des Bundesschwurs, schreibt er: «Alle Landleute von meinem Amt, so sich dahin begeben, werden in jeder Pintenschenke und besonders in den Bäckerstuben gegen die Obrigkeit aufgehetzt, und auch am Donnerstag, bei dem Bundschwur, mischten sich die Weiber von Aarau unter die Zuschauer (und) sagten ihnen, diese Ceremonie sei unbedeutend, sie könne doch den Umsturz ihrer Regierung nicht ändern. Allenthalben sind es die Weiber, selbst in den Bäckerstuben wo ihre Männer ruhige Zuhörer sind, welche die Revolution predigen.» Zwei Aussagen in diesem Bericht sind bemerkenswert. Er zeigt, dass die Stimmung längst gekippt ist, und die Zeit des Ancien régime abgelaufen ist. Der Bundesschwur wird deshalb zum tragisch-komischen Akt. Überraschend ist, dass Frauen dezidiert die Ansicht vertreten, die Revolution könnte nicht mehr aufgehalten werden. Sie sollten Recht behalten.
Proklamation der Helvetischen Republik: Militante Frauen aus der Perspektive der bürgerlichen Oberschichtenmänner: «rottierender Pöbel»
Statt der Wiederherstellung der alten Eidgenossenschaft wurde etwa drei Monate später in Aarau ein neuer Staat, die Helvetische Republik ausgerufen. Voraussetzung waren regionale Revolten, die in kurzer Zeit zum Zusammenbruch der alten Ordnung führten. Alle bisherigen Standesunterschiede zwischen regierenden Orten und gemeinen Herrschaften, zwischen Städten und untertänigen Bauern, zwischen Patriziern, gemeinen Bürgern und ewigen Habitanten, zwischen regimentsfähigen und nicht regimentsfähigen Familien, sowie zwischen souveränen und nicht souveränen Landleuten wurden aufgehoben. Eine wichtige Figur beim Gründungsakt der neuen Republik war der Basler Peter Ochs. Als Oberstzunftmeister gehörte er schon im Ancien régime zur politischen Elite. In den aktuellen Debatten wird sogar die Frage diskutiert, ob diese «alt-neue Elite» nicht eher durch reformabsolutistisches, als radikalrevolutionäres Gedankengut geprägt worden sei. Peter Ochs gilt als geistiger Urheber der neuen Verfassung, denn er hat im Auftrag und unter dem Druck des französischen Direktoriums in Paris einen Entwurf angefertigt, der später – allerdings in modifizierter Form – zur Grundlage der Helvetischen Konstitution wird. Deshalb interessiert die Frage, wie Ochs als Vertreter dieser «alt-neuen» Führungsschicht den Auftritt der Frauen wahrgenommen hat. In seinen späteren schriftlichen Aufzeichnungen zu den revolutionären Vorgängen in Aarau ist dazu eine interessante Bemerkung enthalten: «Wenn wichtige Veränderungen im Staat bevorstehen, so wäre es Unsinn, die Leitung daran Taglöhnern, Fischweibern und Trödlern zu überlassen.» Der militante Auftritt der Frauen, für den der pejorative Begriff «Fischweiber» steht, wird dem Unterschichtenprotest zugeordnet und als Konkurrenz und Kontrastprogramm zum bürgerlichen Revolutionsprojekt gesehen. Die von zeitgenössischen Beobachtern als Bedrohung wahrgenommenen Verhaltensdispositionen können als plebejische Öffentlichkeit und plebejische Kultur beschrieben werden.
Plebejische Öffentlichkeit als Bühne der kleinen Leute
Der bereits erwähnte Bericht des Landvogts enthält wichtige Hinweise zur Funktionsweise dieser plebejischen Öffentlichkeit. Kommunikationszentren sind Orte der Produktion und Distribution, wie Backstuben oder Pintenschenken. Letztere sind kleine Winkelwirtschaften, deren Zahl in der Helvetik stark zunahm, weil sie nun ohne obrigkeitliche Bewilligung betrieben werden durften. Weitere Orte der städtischen und ländlichen Geselligkeit waren Spinnstuben, Werkstätten der Schuhmacher und Mühlen. Im Unterschied zur bürgerlichen Öffentlichkeit mit ihren gelehrten Sozietäten, den elitären Salons und der publizistischen Infrastruktur wurde in der plebejischen Öffentlichkeit auch die Produktionssphäre miteinbezogen. Die Zentren der plebejischen Öffentlichkeit bildeten zugleich die Basis für revolutionäre Aktionen. In diesem Rahmen sind ebenfalls militante Frauen anzutreffen. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren. Als sich 1797 ein Protestzug gegen das Kloster St. Gallen formierte, um die Herrschaft des Fürstabts zu beseitigen, wurden die mit Landsturmwaffen ausgerüsteten Männer von «40 Fischweibern aus der Gegend des Bodensees begleitet, wie in Paris bei der Entstehung der Französischen Revolution». Der zeitgenössische Chronist vergleicht dieses Ereignis also mit dem Zug der Marktfrauen nach Versailles, der den König zwingt, seinen Wohnsitz ins Stadtschloss nach Paris (Tuilerien) zu verlegen, wo er unter Kontrolle der plebejischen Massenbewegung stand. Ein weiteres Beispiel für die Beteiligung von Frauen ist ein mit Prügeln bewaffneter Landsturm aus den Heimindustriegebieten des Zürcher Oberlands, der zuerst nach Winterthur und dann ins Machtzentrum nach Zürich vorrückt. Er wird von «vielen Weibern mit Körben und Säcken begleitet, um, wenn es zur Plünderung kommen sollte, gleich bei der Hand zu sein.» Die rebellischen Frauen werden von «ihren Stadtschwestern» enthusiastisch begrüsst, mit der Losung «die Rute für Winterthur sei jetzt gerüstet.»
Frauenbild im Wandel: «Polarisierung der Geschlechtscharaktere»
Diese öffentlichen Auftritte von Unterschichtenfrauen standen in scharfem Kontrast zum Frauenbild, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann. Es ging von einer polaren Festschreibung der Zuständigkeitsbereiche und einer scharfen Trennung der Einflusssphären aus. Der Auftritt in der öffentlichen Sphäre war dem Mann vorbehalten, während für den privaten respektive häuslichen Bereich die Frauen zuständig waren. Diese Rollenverteilung schloss politische Aktivitäten und eigenständige Wortmeldungen der Frauen in der Öffentlichkeit praktisch aus. Anlässlich republikanisch-revolutionärer Zeremonien waren die Frauen nur als Dekor und Staffage vorgesehen, als Blumenmädchen, Ehrenjungfern und Tänzerinnen. Dies vermag ein Bericht über das Einigungsfest von Stadt und Landschaft Basel vom 25. Januar 1798 zu illustrieren: «Sechszehn junge Frauenzimmer in geschmackvoller weisser Kleidung geschmückt mit dreyfarbigen Bändern und Cocarden und Blumenkränzen von Lorbeer und Oliven (…) machten den feyerlichen Vortrab, unter militärischer Bedeckung eines Landjäger-Corps und desselben wohlbesetzter Musik.» Spezielle Verhaltensanforderungen an die Frauen kamen auch bei der Planung eines Festes zur Erinnerung an die Staatsgründung zum Ausdruck. «Weiber ohne Sittsamkeit» sollten der für den 12. April 1799 in Aarau vorgesehenen Zeremonie fernbleiben. Das Beispiel zeigt, dass aufmüpfige und militante Frauen, die dem bürgerlichen Frauenbild nicht entsprachen, immer mehr als Bedrohung wahrgenommen wurden. In anderen Quellen wurden sie bereits dem «rottierenden Pöbel» zugeordnet.
Diffamierung militanter Frauen: «rasende Weiber, wilde Furien, reissende Hyänen»
Die renitenten Marktfrauen und Fischweiber wurden nun zu wilden Furien und rasenden Weibern hochstilisiert und den finsteren Mächten der Reaktion gleichgesetzt. Im spezifisch schweizerischen Kontext stiessen wehrhafte und militante Frauen zusätzlich auf Ablehnung, weil das männlich konnotierte alteidgenössische Kriegertum mit seinen Heldengeschichten fester Bestandteil des Gründungsmythos war. Um ein einheitliches Nationalbewusstsein zu schaffen, griff die helvetische Führungsschicht auf diesen traditionellen Mythenbestand zurück. Aufrührerische und kämpfende Frauen hatten in diesem Geschichtsbild keinen Platz und gerieten in Vergessenheit. Einen verbalen Höhepunkt erreichte die Diffamierung militanter Frauen in der zeitgenössischen Literatur, nämlich in Friedrich Schillers Gedicht «Lied von der Glocke», das 1799 im Druck erschienen ist. In der durch Briefe und Berichte deutscher Revolutionszeugen stimulierten Ballade – sie gehörte für Generationen zum bürgerlichen Bildungskanon – werden auch die revolutionären Frauen erwähnt: «Da werden Weiber zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz. Noch zuckend mit des Panthers Zähnen zerreissen sie des Feindes Herz.» Aus den selbstbewussten Frauen sind nun gefährliche Bestien und reissende Hyänen geworden.
Die historische Niederlage der Frauen: «Sekundärpatriarchalismus»
Als Schiller 1799 diese Zeilen veröffentlichte, hatten allerdings die Frauen den Kampf um die Emanzipation schon verloren. Die entscheidende Wende vollzog sich während der radikalen Phase der Französischen Revolution 1792-1794. Mit dem Verbot republikanischer Frauenklubs sowie der Verfolgung und Inhaftierung ihrer Mitglieder durch die Jakobiner, wurde die sogenannte Volksherrschaft zur reinen Männerherrschaft. Die Hinrichtung Olympe de Gouges im Jahr 1793 durch die Guillotine markierte das Ende dieser Kämpfe. Ihr wurde zum Verhängnis, dass sie die Menschrechte auch für die Frauen einklagte. Durch die männliche Zurückweisung dieser Forderung und die Niederlage des Frühfeminismus war der Weg für den bürgerlichen Sekundärpatriarchalismus des 19. Jahrhunderts frei.
Verwendete und einführende Literatur:
Böning Holger, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798-1803) – Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998.
Graber Rolf, Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz, Zürich 2017.
Graber Rolf, Zur Einführung der Verfassung der Helvetischen Republik: Republikanismus der Eliten – Republikanismus des Volkes, in: Helmut Reinalter (Hg.), Republiken und Republikbegriff seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich. Internationales Symposium zum österreichischen Millennium, Frankfurt a. M. 1999, (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle «Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770-1850», Bd. 28), S. 101-119.
Graber Rolf, Zeit des Teilens. Volksbewegungen und Volksunruhen auf der Zürcher Landschaft 1794-1804, Zürich 2003.
Hausen Karin, Die Polarisierung der «Geschlechtscharaktere». Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1977, S. 363-393.
Janett Mirjam, Kämpfende Frauen. Als die Weiber zu den Knüppeln griffen, in: NZZ Geschichte, Nr. 34, Mai 2021, S. 36-39.
Medick Hans, Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Erfahrungen und Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Robert M. Berdahl, Alf Lüdtke u. a. (Hg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, S. 157-204.
Meier Bruno u. a. (Hg.), Revolution im Aargau. Umsturz – Aufbruch – Widerstand 1798-1803, Aarau 1997.
Simon Christian (Hg.), Sozioökonomische Strukturen, Frauengeschichte/Geschlechtergeschichte (Dossier Helvetik II), Basel, Frankfurt a. M. 1997.